Die magische Urkraft wird zunehmend angezweifelt – auch von den Autorinnen des Buches «Mythos Mutterinstinkt». Zeit für einen Faktencheck.
Wenn Sie «Mutterinstinkt» in den Online-Duden eingeben, finden Sie dort folgenden Eintrag: «Gespür einer Mutter für das, was ihr Nachwuchs braucht, was für ihren Nachwuchs richtig ist; Bedürfnis einer Mutter, ihren Nachwuchs zu beschützen». Und jetzt tippen Sie mal eben «Vaterinstinkt» ein. Ihre Suche erzielte leider keine Treffer, stimmts? Aber was soll das eigentlich sein, dieser geheimnisvolle Mutterinstinkt?
Ich erinnere mich noch gut an eine Bekannte, die kurz nach der Geburt ihres ersten Babys mit dessen anhaltendem Weinen zu kämpfen hatte. Sie klagte: «Alle scheinen von mir zu erwarten, dass ich weiss, warum er weint. Woher in aller Welt soll ich das wissen?» Und auch in meinem persönlichen Umfeld kenne ich keine einzige Mutter, die direkt nach der ersten Geburt sofort den Dreh raushatte. Jede von uns hat ihre eigene Geschichte zu erzählen. Dennoch wird immer noch so getan, als hätten Mütter ein angeborenes, geheimnisvolles Wissen in sich. Eine Art magische Urkraft, die es ihnen ermöglicht, die Anforderungen rund ums Kind von Anfang an mühelos und intuitiv hinzubekommen. Ein Idealbild, an dem reale Mütter nur scheitern können.
Die Autorinnen Annika Rösler und Evelyn Höllrigl Tschaikner haben diesem Thema ein ganzes Buch gewidmet und sind überzeugt: Es gibt keinen Mutterinstinkt. Ich gebe zu, als ich den Titel «Mythos Mutterinstinkt» zum ersten Mal las, sträubte ich mich gegen die Lektüre. Schliesslich hatte ich doch ein ausgeprägtes Bauchgefühl, was meine Kinder anging. Doch dann kam mir der Gedanke: War das auch beim ersten Kind so, von Anfang an?
Elternwerden ist ein Prozess
Was die Autorinnen über den Ursprung des Mutterinstinkts schreiben, mag wenig überraschen, sorgt deshalb aber nicht für weniger Stirnrunzeln. Sie argumentieren, dass der Glaube an einen angeborenen Instinkt bei Müttern ein soziales Konstrukt ist, das hauptsächlich von einer von Männern geprägten Geschichte in der Gesellschaft festgelegt wurde. Im Laufe der Jahrhunderte haben verschiedene Akteure wie die Kirche, Philosophen, Evolutionstheoretiker, Ärzte und Therapeuten dazu beigetragen, ein Anforderungsprofil zu schaffen, dem Mütter auch heute noch gerecht werden sollen. Das Credo lautet: Die Mutter macht das schon. Und weil sie liebt, opfert sie sich gerne auf.
Elternschaft ist, unabhängig vom Geschlecht, eine Entwicklungsphase, das Gespür fürs Kind eine Summe von Erfahrungen.
Studien der neuen Hirnforschung, im Buch sorgfältig zusammengetragen, belegen aber: Der Mutterinstinkt lässt sich weder biologisch noch neurologisch nachweisen. Eine niederländische Studie zeigte etwa, dass in den Gehirnen schwangerer Frauen vergleichbar nachhaltige Veränderungen stattfinden wie in der Pubertät. Diese Entwicklung diene der Vorbereitung auf die Mutterschaft, sei aber nicht mit der Geburt abgeschlossen, sondern dauere Jahre. Allein schon deshalb könne es keinen angeborenen Mutterinstinkt geben. In anderen Studien wurden Hirnstrukturen von Frauen und Männern vor und nach einer Geburt untersucht und ihr Verhalten als Eltern analysiert. Das Ergebnis: Elternschaft ist, unabhängig vom Geschlecht, eine Entwicklungsphase, das Gespür fürs Kind eine Summe von Erfahrungen.
Die Mutter habe zweifellos einen Vorsprung, da die Veränderungen der Hirnstrukturen mit der Schwangerschaft einsetzen. Und allein das Stillen bedeutet ja naturgemäss zunächst einen primären Kontakt zur Mutter. Aber letztlich gilt: Das Gehirn jeder Bezugsperson, die sich lange und intensiv um ein Kind kümmert, weist Veränderungen auf, die eine liebevolle Fürsorge ermöglichen. Dazu brauche es vor allem Zeit und die nötige Bereitschaft.
Win-win-Situation
Nichts davon will also uns Müttern unser Bauchgefühl absprechen. Es bedeutet nur, anderen Bezugspersonen ebenfalls eines zuzugestehen. Eine Win-win-Situation, denn solche Erkenntnisse entlasten nicht nur Mütter und fördern den Dialog zu Themen wie Care-Arbeit.
Der Verzicht auf die Idee vom Mutterinstinkt spricht zudem nicht nur Vätern, sondern darüber hinaus auch anderen Bezugspersonen und alternativen Familienmodellen die Fähigkeit zu, sich ebenso fürsorglich um ein Kind kümmern zu können. Ein paar Gründe mehr, Müttern endlich den Superheldinnen-Umhang auszuziehen, oder?
Dieser Beitrag erschien ursprünglich im Tagesanzeiger Mamablog.